Beinahe jedem ist das Wort geläufig: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein (...)" (vgl. Johannes 8; 7). Man zitiert es gern, wenn man sich mit jemandem solidarisieren möchte, den man für zu Unrecht angeklagt hält. Wie gern bezieht man diese Worte Jesu auf den oder die jeweils Anderen! Und wie wenig denkt man daran, sie auf sich ganz persönlich anzuwenden. Dabei sollte man aber das gesamte Geschehen, wie es uns im Evangelium überliefert ist, betrachten, und nicht nur einen einzigen Satz herausgreifen. Es hat uns viel für unser Leben zu sagen.
Wir merken es als Menschen nicht, wenn der Verkläger vor den Thron Gottes kommt, um dort über unsere Fehler und Sünden zu berichten. Es entgeht uns, wie hämisch er Gott vorhält, dass seine "Auserwählten" doch "ein ziemlich unzuverlässiger und treuloser Haufen" seien, die quasi permanent und bar jeden Gewissens sündigten und sich von Ihm, dem Ewigen, abwendeten. Er solle sie doch strafen oder wenigstens nicht weiter seine kostbare Liebe an dieses untreue Gesindel verschwenden. Und wir hören auch nicht, wie dem Klage führenden Satan vom Thron der Macht und Liebe Gottes donnernd und unanfechtbar vor Augen geführt wird: "Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht." (vgl. Römer 8; 33) Es ist traurig, dass wir sündigen und nicht bedenken, dass Gott unseretwegen angegangen wird. Aber Christus in seiner Liebe steht immer wieder neu für uns ein mit seinem Sieg, mit seinem Fleisch und Blut, die für uns hingegeben wurden, damit wir leben sollten, damit uns in Ihm auch alles (zum ewigen Leben Notwendige) geschenkt würde (vgl. Römer 8; 32). Was wir aber sehr wohl spüren und hören, sind vielleicht die Anklagen des Gewissens, ist die Selbstanklage dessen, der um seine Verworfenheit weiß und darunter leidet. Wir sollen auf unser Denken, Reden und Tun wohl achten, auch sollten wir unsere Sünden bedenken, bekennen und bereuen, aber wir sollen uns nicht der steten Selbstanklage hingeben, wir sollen uns nicht "selbst zerfleischen". Der Blick ist auf Jesus, den Erlöser und Heiland, zu richten. ER hat uns das Heil erworben, ER hat sein Blut vergossen, um uns aus dem Joch der Knechtschaft der Sünde zu lösen. Gott weist also den Kläger zurück, nicht den Beklagten.
Haben wir in unseren Gedanken und Worten nicht auch so manches Mal Steine in Händen, um sie auf den Nächsten zu werfen, der in unseren Augen gar so unverschämt gesündigt hat? Ich muss bekennen, dass ich leider viel zu oft wie einer dieser Pharisäer und Schriftgelehrten handle, und eigentlich meine(n) Nächste(n) am liebsten "steinigen" möchte, ja, es (zumindest verbal) auch tue. Und in diesen Situationen unseres Lebens sollten wir uns die Worte des liebenden und verzeihenden Jesus, des Sohnes Gottes, vergegenwärtigen, dass wir dann - aber eben nur dann - berechtigt sind, Steine zu ergreifen und zu werfen, wenn wir selbst ohne Sünde sind. Und wer könnte das schon von sich behaupten! Doch ich finde es tröstlich, dass Gott uns sagt: Richte nicht! Er könnte uns genau so gut drauf loshetzen lassen, um dann bei uns den eben gleichen Maßstab anzulegen. Und wie schlecht erginge es uns dann! Aber Christus ermahnt uns und möchte uns dazu bewegen, die Menschen und ihre Taten aus seiner "Erlöserperspektive", mit seinem "Blick der Liebe" zu betrachten, und ihnen - ebenso wie Er - voller Liebe und Versöhnungsbereitschaft zu begegnen.
Doch andererseits wirft Er auch keine Steine auf uns, Er macht uns keine Vorhaltungen, Er klagt uns nicht an, sondern steht mit seinem ganzen Sein dafür ein, dass wir frei werden, um wahre Menschen sein zu können. ER steht mit seinem Leben noch heute dafür ein, dass wir durch sein Opfer zur Freiheit befreit sind (vgl. Galater 5; 1). Er weist den Satan zurück, wenn dieser uns verklagen will, Er weist unsere Selbstanklage zurück und verweist uns an die Liebe Gottes, die in Ihm ist, uns von welcher uns nichts und niemand zu scheiden vermag (vgl. Römer 8; 38.39). ER sagt: Ich verdamme Dich auch nicht! (vgl. Johannes 8; 11). Und in dieser Weigerung, uns zu verdammen, steckt unser Heil, darin haben wir die Möglichkeit, aus Gottes Hand die Gabe des ewigen Lebens (vgl. Römer 6; 23) zu empfangen. Es gilt jedoch, seine liebevolle Mahnung zu beachten. Er vergibt und ist voller Gnade und ewiger, freier Liebe, wenn Er uns aufruft: "Geh hin und sündige nun nicht mehr!" (vgl. Johannes 8; 11).
Ich will es versuchen! Immer wieder neu will ich danach trachten, keine Steine mehr auch meine Schwestern und Brüder zu werfen, sie nicht mehr zu verklagen und zu verdammen. Denn das hätte nur zur Folge, dass auch ich verklagt und verdammt würde. Ich will mich bemühen, statt auf die Verdammnis (in der Selbstanklage) durch meine Sünde vielmehr auf den liebenden und vergebenden Christus zu blicken. Das soll und kann keine Berechnung sein. Hier würde man sich gründlich verkalkulieren! Es soll gläubiges Vertrauen und völlige Hingabe sein, die kindliche Übergabe des eigenen Seins an den Auferstandenen. Und mein Bemühen soll sein, von nun an nicht mehr zu sündigen. Ich weiß, dass ich daran scheitern werde. Aber ich will es täglich neu versuchen und erstreben. Gott kann mir dazu Kraft und Gelingen schenken, und mir in meinem Scheitern immer wieder neu Gnade reichen.
© urs-leo
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